Alarm in Nes Ammim

P1000099Da so viele besorgte Menschen mich kontaktiert haben, will ich schnell ein paar detailliertere Informationen über unsere Situation im Norden Israels weitergeben. Ein Krieg ist hier nicht ausgebrochen. Die Israeli nennen das „Zwischenfall“ und kehren kurz darauf zur Tagesordnung zurück. Der Zwischenfall ereignete sich um und über uns in Nes Ammim; und für alle Volontäre war es eine neue Erfahrung. Selbst ich hatte bisher nur im Leib meiner Mutter bei Luftalarm im Bunker zugebracht.
Am letzten Donnerstagnachmittag zwischen vier und halb fünf saß ich schreibend und lesend an meinem PC, als ich über unsere Dächer laut zischend ein Jagdflugzeug meinte zu hören. Düsenjäger zischen hier öfter lauter über unsere Köpfe, als es in Deutschland erlaubt ist. Daran sind wir schon gewöhnt. Dieses aber schien noch lauter und schneller zu sein. Es folgte ein Ohren betäubender Knall, der mich nichts Gutes ahnen ließ, und dann eine große Stille. Als die Sirene in Nes Ammim aufheulte, fuhr ich meinen PC runter, zog mich gesittet an, schloss meinen Pavillon ab und begab mich zum nächstgelegenen Bunker, den ich verschlossen fand. Ich wollte ihn nicht aufschließen, sondern lieber mit den anderen zusammen sein und ging darum zum großen Bunker unter unserem Dorfcenter. Dort fand ich die meisten Volontäre in einer Mischung aus Unsicherheit und Ausgelassenheit. Einer hatte nur das Handtuch um seine Hüften geschwungen, weil der Alarm ihn unter der Dusche erwischt hatte. Die Eltern mit ihren kleinen Kindern schauten besorgter drein. Erst später kapierte ich, dass meine gelassene Reaktion auf den Alarm eher als „leichtsinnig“ eingestuft werden musste. Jetzt wissen wir, dass wir nur ca. fünfzehn bis vierzig Sekunden haben, um den Bunker zu erreichen, bevor uns die Rakete erreicht. Wenn das nicht möglich ist, sollte man sich dort, wo man gerade ist, auf den Boden legen und seinen Kopf schützen.
Die Israeli hatten im Bunker das Fernsehen eingeschaltet und als die Sendung für eine aktuelle Meldung unterbrochen wurde, übersetzten sie für uns. Aus dem Libanon waren Raketen nach Israel geschossen worden, von denen eine nur wenige hundert Meter von Nes Ammim entfernt von dem israelischen Abwehrsystem „Eiserne Kuppel“ in der Luft unschädlich gemacht wurde.

"Eiserne Kuppel" Raketenabwehrsystem 200m vor Nes Ammim

“Eiserne Kuppel” Raketenabwehrsystem 200m vor Nes Ammim

Wenn die Abwehrrakete die angreifende Rakete trifft, pulverisiert sie diese und sich selbst in der Luft zu einem grobkörnigen Staub, der auf der Erde keinen Schaden anrichtet. Eine wunderbare Erfindung! Einige Volontäre hatten beobachtet, wie das in unmittelbarer Nähe über uns geschehen ist und den lauten Knall verursacht hat. Schon seit gut einer Woche stand ungefähr zweihundert Meter von Nes Ammim entfernt auf den Feldern, bewacht von sechs jungen Soldaten, eine von vielen mobilen Abschussrampen, die von Haifa aus zentral gesteuert werden. Die Soldaten wussten, dass noch vor dem Wochenende mit einem Angriff aus dem Libanon zu rechnen war. Niemand kannte natürlich den genauen Zeitpunkt.
"Eiserne Kuppel" - Segnung israelischer Hochtechnologie

“Eiserne Kuppel” – Segnung israelischer Hochtechnologie

Der Alarm war in Nes Ammim für diese Rakete nicht ausgelöst worden, weil sie auf ein weiter entfernt liegendes Zielgebiet gerichtet war, das sie glücklicherweise nicht erreicht hat.
Der Alarm in Nes Ammim galt zwei anderen Raketen, die leider das Abwehrsystem verfehlt hat und die darum in zwei Kibbuzim, in einem nördlich und einem anderen südlich von Nahariya, explodiert sind. Wir in Nes Ammim haben also Glück gehabt. Oder „wir sind bewahrt worden“; so formulieren es unsere Freunde in Haus Beth-El im Kibbuz Shave Zion in unserer Nachbarschaft.
Hof in Beth-El im Kibbuz Shave Zion

Hof in Beth-El im Kibbuz Shave Zion

Beth-El ist ein Erholungsheim für Holocaust-Überlebende und deren Kinder, das von Christinnen und Christen aus Württemberg im Verein „Zedeka“ mit vielen deutschen Volontären betrieben wird. Schon seit Jahrzehnten währt die Freundschaft zwischen Beth-El und Nes Ammim. Deutsche Volontäre und israelische Gäste saßen am Donnerstagnachmittag in Beth-El in der Cafeteria, als die Sirene aufheulte. Schnell waren auch die Betagten und Gebrechlichen im nahegelegenen Bunker in Sicherheit, als eine der Raketen im Hof dieses deutschen Anwesens zu Boden ging und explodierte.
Die Rakete explodierte, wo die Topfpflanze steht.

Die Rakete explodierte, wo die Topfpflanze steht.

Kein Mensch kam zu Schaden, genauso wie in Gescher HaSiv, dem Kibbuz nördlich von Nahariya.
Fenster und Türen in der Umgebung gehen durch die Druckwelle zu Bruch. An den Spuren im Mauerwerk kann man genau sehen, welches Ziel die Rakete hat und wie sie funktioniert. Durch die Explosion werden ähnlich wie bei den Sprengstoffgürteln der Selbstmordattentäter tausende von Kugeln ringsherum geschossen, um möglichst viele aufrecht stehende oder gehende Menschen zu verletzen oder zu töten.
Schwerpunkt der Kugeleinschläge in Kopfhöhe

Schwerpunkt der Kugeleinschläge in Kopfhöhe

Unverkennbar eine Angriffswaffe gegen die Zivilbevölkerung. In seltener Klarheit ist hier unbezweifelbar zu erkennen, wer angreift und wer verteidigt. Natürlich bleiben solche Angriffe nicht ohne Gegenschlag. Am Freitagmorgen wurde ein Stützpunkt einer islamistischen Splittergruppe im Libanon bombardiert, von denen die Raketen auf Israel mutmaßlich abgeschossen wurden. Weder die Hisbollah noch irgendwelche syrischen Kampfverbände standen mit dem Angriff im Zusammenhang. Soweit mein Erfahrungsbericht!
Ich hänge noch ein paar Beobachtungen zur deutschen Berichterstattung an. Spiegel-online sticht dabei wieder heraus. Melancholisch denke ich an die Zeiten zurück, als ich den Spiegel gerne gelesen habe, weil er in dieser Zeit von sorgfältig recherchierenden seriösen Journalisten gemacht wurde.
Bei der Nahost-Berichterstattung dieses Organs wird man eher an die Kalauer aus den Sechzigern erinnert: Chruschtschow schlägt Kennedy bei dessen Staatsbesuch in Moskau einen Wettlauf um die Kremlmauer vor, den der jüngere Kennedy natürlich gewinnt. Am nächsten Tag steht in der Prawda: Wettlauf der Staatsmänner – Chruschtschow wird Zweiter, Kennedy nur Vorletzter. Hahaha… Beim Besuch des Papstes in den USA wird er vom Bürgermeister New Yorks vom Flughafen in die City im Beisein vieler Journalisten mit Fakten über die größte Stadt des Landes zugedeckt. Bei den „zehntausend Nachtbars“ fragt der Papst ungläubig nach: Wie viele Nachtbars gibt es hier? Am nächsten Tag steht in der NY-Times: Erste Frage des Papstes in New York: Wie viele Nachtbars gibt es hier? – Zurück zu Spiegel-online!
Die Schlagzeile bei Spiegel-online über den Vorfall lautet: „Luftangriff: Israel bombardiert Palästinenser-Lager im Libanon.“ Man traut seinen Augen nicht! Es folgen vier Absätze über den Vergeltungsschlag (die erkennen lassen, dass es keineswegs um ein „Palästinenser-Lager“ geht), an die schließlich zwei Absätze über den Raketenangriff gegen Israel angehängt sind. Viele deutsche Medien berichteten in ähnlicher Weise. Gegen die Bilder im Kopf („Israel ist der Aggressor“) kommen die Fakten kaum an.
thanks for protecting us, guys!

thanks for protecting us, guys!


Die Berichterstattung erinnert mich an den Leitartikel in der „PalästinaIsraelZeitung“, die herausgegeben wird von der AG „Völkerrecht und Menschenrechte in Palästina und Israel“ zum Gaza-Konflikt im letzten November. Der Autor aus Niederdollendorf entschuldigt die Raketenangriffe als Dumme-Jungen-Streiche: „Ja, die Gaza-Palästinenser sind verrückt, schießen ihre selten treffenden Raketen ab, während Israels Hochtechnologie unentwegt mordet und zerstört.“ So dumm-dreist kann die Niederdollendorfer Perspektive Ursache und Wirkung verkehren! Wenn er dann mit dem Neuen Testament das Alte abwertet, in dem angeblich „Unmenschlichkeit propagiert“ wird, weiß ich, wes Geistes Kind der Schreiber ist…
Ich gestehe, dass ich wie die meisten Volontäre hier das Bedürfnis hatte, in den letzten beiden Tagen den Jungs im Feld vor den Toren Nes Ammims zu danken, dass sie Israels Hochtechnologie in Staub und Hitze Tag und Nacht bewachen, die uns zusammen mit Israeli und Palästinensern in diesem bedrohten Land beschützt.
Blick auf Nes Ammim von dem Raketenstützpunkt aus gesehen

Blick auf Nes Ammim von dem Raketenstützpunkt aus gesehen


…dass Israels Soldaten auch anderes tun, was mir nicht gefällt, steht dann (auch in meinem Blog) auf einem anderen Blatt…

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1 Response to Alarm in Nes Ammim

  1. Lara says:

    Hallo Rainer, schon immer haben mich deine Berichte beeindruckt und interessiert, welche ich auch mit großem Interesse von Deutschland aus verfolge. Und auch hier hast du wieder sehr schön und deutlich einige Dinge klar gestellt. ich danke dir sehr für deine Offenheit und liebe zum schreiben. Auch weiterhin bin ich sehr an den Realitäts getreuen Neuigkeiten aus Israel interessiert und mein herzt schlägt auch weiterhin sehr für Nes Ammim.. ich denke immer noch viel an unsere zeit zurück und bin in meinen gedanken (auch im Job) oft in Nes Ammim. Viele neuen Herausforderungen im neuen Beruf erinnern mich zwischendurch sehr an Nes Ammim und wenn ich zu erzählen anfange merken meine Zuhörer und letztlich auch ich wie sehr ich doch Nes ammim vermisse und wie gut es mir dort gefallen hat. Auch aus diesem Grund tut es mir im Herzen weh eine solche Entwicklung in Israel zu sehen…. Aber auch darüber lässt es sich viel Berichten und Erzählen. Ich wünsche dir/ euch alles Gute und Glück im schönen Land und freue mich auf deinen nächsten Beitrag. Liebe Grüße aus Belgien (mein neuer Arbeitsplatz zur Einarbeitung für Deutschland).
    Lara

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