Warum Avocados in Israel den Friedensprozess fördern

Irgendwann im Frühjahr verirrte sich ein kleines Auto nach Nes Ammim. Als der Fahrer sein Fenster herabließ, richteten sich vier Augenpaare auf mich unter großen schwarzen Hüten, gerahmt von langen Schläfenlocken und noch längeren Bärten. Haredim. Vier ultra-orthodoxe Männer. Auch ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Herablassendes. Sie hatten sich keineswegs verirrt. Sie wussten sehr wohl, wo sie sich befanden. Sie suchten das Verwaltungsbüro dieses europäischen christlichen Dorfes. So ließ mich der Fahrer wissen, der als einziger von ihnen Englisch sprach.

Haredim, ultra-orthodoxe Juden

Haredim, ultra-orthodoxe Juden


Erst Wochen später erfuhr ich zufällig, dass unsere Avocados es waren, die diese vier hohen Herren in unser Dorf gelockt hatten. „Unsere Avocados“ sagen wir immer noch, obwohl die Plantagen seit Jahren an unsere Nachbarkibbuzim verpachtet sind. Aber genau das macht sie für ultra-orthodoxe Juden interessant. Jedenfalls in diesem Jahr. Vom Management Nes Ammims haben sie sich nämlich versichern lassen, dass die Avocado-Bäume, zwar von Juden gepachtet, gleichwohl auf unserem Grund und Boden wachsen, der Eigentum nicht-jüdischer Europäer ist, dass ferner sie von palästinensischen und drusischen, also nicht-jüdischen Arbeitern gepflegt und geerntet werden und dass die ersten Avocados an diesen Bäumen wie in Israel üblich erst im vierten Jahr nach ihrer Pflanzung geerntet wurden. Das zusammen macht die Avocados nämlich koscher, für orthodoxe Juden genießbar. Jedenfalls in diesem Jahr 5775, das am Abend des 24. September begonnen hat. Jedes siebte Jahr ist im jüdischen Kalender ein Sabbatjahr. Und dieses Jahr ist ein solches.
Eigentlich ist das Sabbatjahr eine wunderbar weise Einrichtung der Tora (3. Mose 25, 1-7.20-22). In den Genuss sabbatlicher Ruhe sollen nicht nur jüdische Menschen kommen, sondern auch ihre Sklaven, ihre Nutztiere, die bei ihnen wohnenden Fremden – und eben auch der Boden. Alle sieben Jahre gönnt man ihm eine „Brache“, ein „Brachjahr“. Nur so bleibt der Boden ertragreich. Die antike jüdische Land- und Volkswirtschaft war ganz darauf eingestellt und betrieb in sechs Jahren Vorratswirtschaft für die nächsten beiden, das siebte, in dem weder gesät noch geerntet, und das achte, in dem wieder gesät aber erst am Ende geerntet wurde.
Juden in der Diaspora betrifft das nicht. Die Bestimmungen zum Sabbatjahr beziehen sich nur auf das „Gelobte Land“. Seit die Juden in Palästina nur eine kleine Minderheit waren, hatten sie mit diesen Bestimmungen keine Probleme. Denn in der Halacha (der Auslegung der Tora durch die Rabbiner bis in alle Einzelheiten hinein) war nämlich festgelegt, dass die Bestimmungen zum Sabbatjahr nur Böden betreffen, die im Besitz von Juden sind. Juden, die in Palästina Landwirtschaft betrieben, kauften eben im siebten und achten Jahr ihre Lebensmittel von der nicht-jüdischen Mehrheit. Zum Problem wurde es erst, als Palästina zu einem jüdischen Land wurde und sich die Mehrheitsverhältnisse veränderten. Jetzt wurde das den Palästinensern verbliebene nicht-jüdische Land in jedem siebten Jahr besonders kostbar.
Zwar hält sich nicht einmal die Hälfte der Juden in Israel an die Koscher-Regeln, aber kein Supermarkt, kein Restaurant, nicht einmal McDonald können es sich leisten, in Israel unkoschere Speisen anzubieten, weil sie sonst alle Kunden verlieren würden, die sich an die Koscher-Regeln halten. Das Sabbatjahr hat also enorme marktwirtschaftliche Konsequenzen. Eigentlich scheren sich die säkularen Kibbuzim nicht um die Halacha und ihre Gebote. Aber sie können ihre landwirtschaftlichen Produkte in diesem Jahr in Israel nicht absetzen. Sie können sie nur exportieren. Den Binnenmarkt beherrschen die palästinensischen und drusischen Bauern. Verknappung des Angebotes erhöht die Preise und verspricht den Nichtjuden im jüdischen Land höhere Gewinne. Unsere Nachbarkibbuzim kommen in den Genuss dieser Vorteile, weil sie koschere Avocados anbieten können, die auf unserem nicht-jüdischen Land gewachsen sind. In wenigen Tagen werden die ersten geerntet.
Avocado-Bäume in Nes Ammim

Avocado-Bäume in Nes Ammim


Am Ende ist es ein Spiel, bei dem alle gewinnen. Die orthodoxen Juden können auch im Sabbatjahr frische Avocados essen. Sie müssen sich dazu nur etwas herablassen zu den Gojim, den Heiden, die sie ihnen verkaufen. Und die Palästinenser und Drusen haben in diesem Jahr auch einmal einen Vorteil vom jüdischen Land, das sie sonst eher in vielen Bereichen benachteiligt. Bei Licht besehen, leisten Halacha und Volkswirtschaft einen Beitrag zu Frieden und Verständigung. Wirtschaftliche Verflechtung war ja immer schon eher ein Beitrag zu Frieden und Verständigung als Boykott. Beide, die derzeitige Regierung Israels wie die palästinensische Autonomiebehörde könnten von dieser Einsicht lernen.

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